SYSTEMKRITISCH


Sturm und Drang

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Wenn ich auf die vergangenen gut 28 Monate zurückblicke, seit ich im September 2023 als Systementwickler und Systemberater begonnen habe, dann lässt sich mein beruflicher Alltag in einem Begriff zusammenfassen: Sturm und Drang. Allerdings nicht im literarischen Sinne jugendlicher schöpferischer Entfesselung, sondern eher als permanenter Ausnahmezustand, der zwischen Improvisation, strukturellem Chaos und permanenter Überlastung pendelt.

Von außen wirkt mein Umfeld solide: IBM Gold Partner, jahrzehntelange Kundenbeziehungen, ein etabliertes WMS und Warenwirtschaftssystem auf der "AS/400", namhafte Kunden. In der Realität zeigt sich jedoch ein Grundproblem, das so tief im Fundament sitzt, dass es jedes Entwickeln von Software zu einem Kampf gegen Naturgesetze macht. Software ist undokumentiert, oft historisch gewachsen, noch öfter schlicht unverständlich. Es gibt weder klare Architekturen noch nachvollziehbare Entscheidungen, nur Spuren früherer Entwickler, die längst nicht mehr da sind. Und inmitten dieses Archivs aus Zufall und Gewohnheit sitzt man als Entwickler und soll „mal eben“ moderne Lösungen bauen, neue Schnittstellen integrieren, komplexe Datenflüsse verstehen, die nirgendwo beschrieben sind und Probleme lösen in Bereichen, in denen man noch nie entwickelt hat.

Mit meinen 28 Monaten Erfahrung gelte ich hier inzwischen unfreiwillig als einer der „Senior Devs“. Nicht, weil ich so außergewöhnlich weit wäre, sondern weil es schlicht niemanden gibt, der mehr Zeit hat, sich mit Dingen zu beschäftigen. Es ist keine Zeit, neue Kolleginnen oder Kollegen einzuarbeiten. Es ist auch keine Zeit, saubere Übergaben zu machen. Weiterbildung? Offiziell möglich, praktisch bleibt man auf den Kosten sitzen, was in einem Unternehmen dieser Zertifizierungsstufe eigentlich absurd ist.

So wächst der Berg an Verantwortung und Aufgaben schleichend zu einem Gebirge heran. Technische Schulden thematisiere ich erst gar nicht. Riesige Schnittstellenprojekte, komplette End-to-End-Verarbeitungen, die man alleine betreut, häufig sogar am Produkt vorbei entwickeln muss – weil niemand erklären kann, wie das Produkt eigentlich gedacht ist. Es gibt keinen Raum für nachhaltige Lösungen, nur für Feuerwehraktionen. Zu wenig, zu spät.

Mir ist klar, dass sich meine Situation verändern muss. Nicht, weil ich nicht bereit wäre, Verantwortung zu tragen oder Probleme zu lösen, sondern weil ich irgendwann die Nerven verliere, wenn sich an der strukturellen Lage nichts ändert. Zu viel Konjunktiv, zu wenig echter Wille. Die immer gleichen Phrasen seit Jahren.

Und das alles in einem Markt, der zunehmend von Massenentlassungen, Outsourcing nach Indien und Polen und einer allgemeinen Unsicherheit dominiert wird. Sturm und Drang also. Aber irgendwann muss aus Druck wieder Stabilität werden.

 

 


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